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Werra: Von Merkers zur Salzkristallgrotte

Montag, 29. November 2021

Ems: Von Lathen nach Leer

 Ems-Tag V

Der wahre violette Weg - Kindheitskaulquappen - Die Stadt der Schiffemacher - Brückolapps oder: Die Durchschnittsgeschwindigkeit deutscher Bauprojekte - Die zweite grüne Stadt - Watt is dat denn? - Warum ein Land seinen Statuen vergammelte Pflanzenwürfel und Heißgetränke in die Hände drückt und ich das überaus sympathisch finde - Die große kleine Stadt

Am vorletzten Tag durfte ich richtig viel am Wasser fahren. Hinter Lathen folgt erst einmal eine Kanalee, dann ging es am Ufer weiter. Bei Steinbild habe ich den Fluss überquert und das steinerne Bild der angestrahlten Kirche bestaunt.

Die Beschilderung konnte ich selbst im finstersten, violettesten Herbst nicht übersehen.

Eine inkonsequente Straße brachte mich nach Papenburg und irritierte mich unterwegs ein bisschen. Hier wurde einerseits ein klar abgegrenzter Radstreifen in den Gehweg gemauert und andererseits ein Fahrradsymbol auf die Fahrbahn gepinselt.
Willkommen bei den Machern lese ich am Ortseingang.

Ich habe mal in Papenburg gelebt. Da ich zu diesem Zeitpunkt allerdings zwei Jahre alt war, beschränken sich meine Erinnerungen auf

a) das orangefarbene Licht der Müllabfuhr, das sich in einer Glastür spiegelt und

b) die Kaulquappen im Tunxdorfer Waldsee. Es ist fast unmöglich, Wasser aus diesem See zu entnehmen, ohne das einem anschließend kleine schwarze Frösche in spe durch die hohlen Hände flitzen und sich wundern, warum der Waldsee auf einmal so rosa geworden ist. Irgendwie hat es mich gefreut, dass dieser See meiner Kindheit auch im Radführer als Sehenswürdigkeit markiert ist (obwohl die Kaulquappen nicht erwähnt werden).

 

Viele Jahre später bin ich erneut mit meiner Familie nach Papenburg gereist. Während meine Eltern jedes Dixiklo mit "Also das stand hier damals noch nicht.", kommentierten, stellte ich fest, woran ich mich alles nicht erinnerte. Dazu gehört auch das Museum Zeitspeicher. Das stand damals übrigens auch noch nicht.
Als wir an der Kasse des Zeitspeichers zahlen wollten, wurden wir einfach durchgewunken. Wir durften gratis rein. Der Strom war ausgefallen und das meiste funktionierte nicht, deshalb durften wir kostenlos durchlaufen. Es handelt sich um eine ganz interessante, interaktive Ausstellung. Also, wenn Strom da ist Strom. Thematisch dreht es sich vor allem um die Meyerwerft und das Moor, das einen großen Teil des Emslandes bedeckt (und letztes Jahr versehentlich von der Bundeswehr angezündet wurde). Das Museum könnte demnach auch Meyer and Moor heißen.

Der Stadtpark von Papenburg verfügt über ziemlich viele Tulpen und ziemlich junge Bäume. Ersteres liegt vermutlich an der Nähe zu den Niederlanden. Letzteres liegt daran, dass vor Jahren in einem Akt des Ökoterrorismus die Rinde aller Bäume runderhum abgeschnitten wurde, sodass sie abstarben.

Papenburg ist eine Fehnkolonie. Das bedeutet: Da wurden Entwässerungsgräben angelegt, damit man im Moor irgendwie wohnen kann. Die meisten Städte in der Gegend sind Fehnkolonien, aber Papenburg ist die älteste. Was genau diese Fehn denn sind, bleibt ein Rätsel, obwohl alles mögliche nach denen benannt ist, sogar der Radweg Deutsche Fehnroute.
Zwischen den Ziegeln erstreckt sich der Hauptkanal, das Herzstück der Stadt. Darauf befinden sich zwei historische Holzschiffe und etwa 7439 historische Klappbrücken, Drehbrücken, Zugbrücken und möglicherweise sogar ein paar Brücken, die sich nicht bewegen ließen.

Und doch waren die Papenburger mit dieser Menge an Überquerungsmöglichkeiten noch nicht zufrieden - neben eine der Brücken wurden zusätzlich noch große weiße Platten über den Kanal gelegt, um die Einkaufsstraße zu verbreitern. Wer es nicht hinbekommt, diesen Kanal zu überqueren, der ist echt selber Schuld. In Papenburg herrschen keine alten weißen Männer, sondern alte weiße Brücken. Das ist mal eine ganz andere Art von Innenstadt.

Anschließend holperte und glitt ich auf einer Zickzackroute aus Papenburg heraus. Dabei musste ich auch eine Schleuse überqueren. Und zwar nicht über eine Brücke - nein, so richtig über diese Wand, die nach unten fährt, wenn sich die Schleuse öffnet. Was zum Glück nicht passierte, während ich mein Fahrrad die zwei kurzen, beweglichen Treppen heruntertrug und über den schmalen Weg schob. Sonst wäre es ungemütlich, nass und schlammig geworden.

Doch allem Anschein nach war hier überhaupt nichts los. Das wunderte mich, denn nun kam ich am wahrscheinlich bekanntesten Ort von Papenburg und der gesamten Ems vorbei. Schon 1795 wurde hier die Meyerwerft gegründet, damals bauten die noch Holzschiffe. Inzwischen schrauben rumänische Leiharbeiter im größten Trockendock der Welt ganz enorme Kreuzfahrtschiffe zusammen, die normalerweise nicht aus Holz bestehen.
Der Radweg schlägt einen Panorama-Bogen um die Halbinsel aus Kränen, Containern, einem riesigen weißen Gebäude und noch so einem halb offenen Bauwerk (das ist dann wohl das Trockendock). Nachdem ich schon mehrmals gehört hatte, wie beeindruckend diese Werft doch sei, waren meine Erwartungen etwas zu hoch. Klar, das ist schon ein gewaltiger Kasten, aber solche riesigen Dinger habe ich in MV auch schon gesehen. Nun ja, seit ich eine Reportage über die Arbeitsbedingungen gelesen habe, fällt es mir zugegebenermaßen auch schwerer, mich dafür zu begeistern.

Zwar ist die Ems schon ganz schön breit, aber für Schiffe dieser Größenordnung eigentlich noch eine Nummer zu klein. Deshalb kritisieren manche, die Werft sei zu groß für Papenburg geworden und hätte längst nach Emden umziehen sollen. Stattdessen wurde die Ems angepasst.

Alle verbliebenen Brücken über die Ems sind Klappbrücken. Es verbleiben aber sowieso nur noch zwei Brücken bis zur Mündung, und eine davon ist sozusagen dauerhaft aufgeklappt. 2015 fuhr das Frachtschiff Emsmoon mitten in die zugeklappte Friesenbrücke rein. Der Brückenwächter und der Lotse hatten sich im Funkverkehr irgendwie missverstanden.
Die Brücke wurde von der Eisenbahn, Radfahrern und Fußgängern benutzt. Nun ist sie eine Ruine, bei der das mittlere Segment fehlt. Um den Unfall zu veranschaulichen: In der Mitte befand sich ein ähnliches Stahlstück wie links und rechts, und der Frachter hat das einfach mal so stark zusammengequetscht, das es wie ein kurzes Geschwür am rechten Stück baumelte.
Bis 2024 soll hier die größte Drehbrücke der Welt entstehen, eine Hub-Drehbrücke, die sich gleichzeitig heben und drehen (und dabei vielleicht noch hupen) kann. Die alte Friesenbrücke war sowieso nicht optimal, denn für die Kreuzfahrtschiffe musste er Mittelteil jedes Mal von einem Kran ausgebaut werden.
Manche bezweifeln jedoch, dass die Brücke je wieder stehen wird. In den letzten sechs Jahren wurde schließlich gerade mal das zerquetschte Mittelstück entfernt. Da stellt sich die Frage: Wie viele Ostfriesen braucht man, um eine Brücke zu bauen?

Die Brücke gehört zu Weener, der grünen Stadt im Rheiderland, die unbedingt einen ähnlich coolen Beinamen wie Meppen haben wollte. Wie in Papenburg gibts einen Kanal mit historischen Holzschiffen (aber ohne Brücken, denn mit Brücken hat Weener ja nicht so gute Erfahrungen gemacht). Wer dem Wasser aus der Stadt heraus folgt, erlebt im Rahmen einer fixen Zeitreise, wie das Wasser breiter und moderner wird, bis es kurz vor der Ems einen Sportboothafen beinhaltet. So ein kleines Örtchen hat heutzutage nicht mehr das Zeug zum wichtigen Handelshafen, damit der Hafen also nicht total bedeutungslos ist, dürfen reiche Leute dort ihre Boote parken.

Am historischen Ende des Kanals werden die Törfwieven (Torffrauen) von Weener mit einer Statue geehrt. Sie hatten die Aufgabe, im Auftrag der Gemeinde den Torf aus dem Moor von den Schiffen zu laden, damit der wertvolle Brennstoff verkauft werden konnte. Damit trugen sie ganz entscheidend zum Wohlstand der Stadt bei. Der Bildhauer hat sich von einer Frau beraten lassen, die in den Fünfzigern mit ihrer Mutter und Oma noch selbst als Törfwiev tätig war.

In Weener gesellen sich auch der Nordseeküstenradweg und die Dollart-Route dazu, die sich aus irgendeinem Grund ganz schön weit von der Nordsee entfernt haben. (Wer den deutschen Nordseeradweg in Weener starten will, muss wegen der fiesen Friesenbrücke aber erstmal einen richtig weiten Umweg mit der Bahn durch die Niederlande machen.) Und damit herzlich willkommen in Ostfriesland.

Zwar durfte ich weiter neben dem Fluss radeln, aber nun ragen hohe Deiche am Flussufer auf, sodass ich trotzdem nichts von der Ems erkennen konnte. Stattdessen konnte ich durch die Bäume die erste ostfriesische Dorfkirche erkennen. Ihre beiden Vorgänger versanken in der Ems. Nun, das erklärt den hohen Deich.

Am Flussufer entstehen faszinierende Matschmuster. Hmm, woran erinnert mich das nur... ach so, natürlich! Das sieht aus wie Mini-Priele, also diese Bäche im Wattenmeer. Offensichtlich beeinflussen die Gezeiten den Fluss bereits stark, und zwar nicht nur in nautischer, sondern auch in ästhetischer Hinsicht.

An der Mündung der Leda in die Ems steht ein witziges Brückenhäuschen mit hervorstehenden Augen. Es passt genau auf, dass die Jann-Berghaus-Brücke rechtzeitig hochgeklappt wird, wenn sich ein Schiff nähert. Bisher ist es den Brückenwärter gelungen, das Schicksal der Friesenbrücke zu vermeiden.
Die Autobahn umgeht dieses Problem, indem sie sich in einen Tunnel verzieht.

Die Brücke bringt alle Reisenden direkt nach Leer. Auch hier kurvt der Radweg am Hafen entlang mitten durch das Zentrum und zeigt mehr oder weniger automatisch die schönen Seiten der Stadt. Weil in Leer schon 1992 Fahrradstraßen gebaut wurden, wurde die Stadt als fahrradfreundlichste Kommune Niedersachsens ausgezeichnet.

Und Leer hat wirklich schöne Seiten. Die hübschen Handelshäuser bilden malerische Gassen.
Ostfriesen mögen Tee, und Leeraner mögen ihn offenbar ganz besonders. Deshalb haben sie dem Tee sowohl ein Museum als auch eine Statue gewidmet. Ostfriesen stellen weibliche Statuen auf für alles, was ihnen wirklich wichtig ist: Torf und Tee.

Ich trinke auch gern Tee, aber ein anderes Museum hat mich noch mehr interessiert. Irgendwo am Stadtrand fand ich das Leeraner Miniaturland in einem eigentümlichen Gebäude - zwei moderne Hallen plus ein paar Nachbauten der typischen Altstadthäuser.

Dieses Miniaturland besteht aus vier Teilen:
  • Ostfriesland (inklusive drei Inseln)
  • Ammerland (also das, was Fremde auch zu Ostfriesland zählen, was aber aus Sicht der Ostfriesen definitiv nicht zu Ostfriesland gehört und deswegen in eine andere Halle verbannt werden muss)
  • Berlin, diese Anlage stand früher im Berliner Einkaufscenter Alexa
  • Garteneisenbahn im Außenbereich
Ammerland und Berlin sind noch nicht fertig, aber da steht schon echt viel.

Ab und zu geht das Licht aus und violette Neonröhren lassen es Nacht werden in der Minilandschaft. Anders als im Miniaturwunderland Hamburg ist dieser Tag-Nacht-Rhythmus nicht so regelmäßig: Mal wurde es abrupt hell oder dunkel, ohne dass dazwischen die Dämmerung erfolgt, ein andermal dauerte die Nacht so extralang. Für Polarnächte liegt Ostfriesland schließlich nicht weit genug im Norden, oder?
Ansonsten ist diese Anlage ein bisschen lockerer und ruhiger als die Hamburger Konkurrenz. Der Computer, von dem die Züge gesteuert werden, steht einfach so offen herum. Wer auf die Knöpfe mit Spezialeffekten (zum Beispiel Drachensteigen, Baumfällen oder Tatort-Dreh) drückt, erhält zumeist nur Geräusche und Lichter, manchmal auch eine zaghafte Bewegung, welche die Szene darstellen. Eine echt norddeutsche Anlage, etwas schweigsamer und zurückhaltender, aber deshalb nicht weniger liebevoll gemacht. Es sind auch weniger Fahrzeuge als in Hamburg unterwegs, auf den wenigen Schienen ziehen rote Regionalexpresse und weiße Intercitys durch das Land (was das Bahnnetz Ostfrieslands akkurat wiederspiegelt).
Dafür gibts besonders viele Schiffe, von denen manche sogar auf Schienen fahren.

Wie ich auf der Rückfahrt bei einem Blick durch das Bahnfenster festgestellt habe, ist das Miniland im Vergleich zu den endlosen leeren Feldern des echten Ostfrieslands immer noch extrem vollgestopft.

Die Städte Leer und Papenburg habe ich wiedererkannt, und sogar dem Emsradweg wurde richtig viel Platz eingeräumt. Aber Moment mal! Ich musste doch die ganze Zeit hinter dem Deich bleiben, so schick obendrauf durfte ich überhaupt nicht fahren. Naja, vielleicht ändert sich das ja auf der restlichen Strecke. Ein paar Kilometer sind ja noch übrig.


Sonntag, 28. November 2021

Ems: Von Salzbergen nach Lathen

Ems-Tag IV

Der angebaggerte Kanal - Die Kanaleesation des Emsradwegs - Wasserfall Handrührgerät - Noch ein falscher Name - Die Stadt der Singles - Rundkurs um ein verblüffend optimistisches Loch - Die grüne Stadt am Wasser - Ganz große Kunst - Regenuntergang - 0S - Die stille Stadt der Schwebebahn - Wie der Transrapid indirekt bewirkt hat, dass ein Haufen Fahrgäste am Samstagabend wie blöde auf eine hässliche Glastür starren

Mensch, dachte ich, als das 873. strahlende Rapsfeld an mir vorbeizog, die Emslandschaft ist schon ziemlich gleichförmig. Seit der Quelle sieht das ziemlich genau so wie hier aus. Als ich gestern die Mittelgebirgsschwelle überschritten habe, war das null zu merken.

Als hätte die Ems meine Gedanken gehört, vollführte sie sofort ein paar Waldkurven mit einem kleinen Steilufer. Immerhin. Trotzdem ist jeder andere Fluss dieser Größe abwechslungsreicher.

Dann habe ich erneut den Dortmund-Ems-Kanal überquert. Er war übersät mit einer dicken Baustelle aus Baggern und Kränen. Wird denn überall an diesem Kanal gebaut? Ist ja fast wie eine deutsche Autobahn.

Dann vereinigt sich der Kanal mit der Ems. Direkt dahinter kommt noch die Große Aa dazu, die ich auf einer eigenartigen Brücke mit zwei Geländern überquert habe. Auf den letzten Kilometern haben sich so viele Nebenflüsse, die aus irgendeinem Grund alle Aa heißen, der Ems angeschlossen, dass sie richtig dick geworden ist. Wobei der Kanal vermutlich das meiste dazu beigetragen hat.

Wenige Minuten später verabschiedet sich der Kanal wieder, und dieses Spiel wiederholt sich ab jetzt ständig. Normalerweise würde man so was Ems-Seitenkanal nennen, aber der Dortmund-Ems-Kanal behält weiterhin seinen Namen.

Hier habe ich einen Abstecher auf die Halbinsel zwischen Ems und Kanal unternommen, weil ich mir einen Wasserfall anschauen wollte. Was? Ein Wasserfall in diesem Flachland? Das musste ich mit eigenen Augen sehen.
Er heißt Wasserfall Hanekenfähr. Die Autokorrekturfunktion meines Handys ist zwar der Meinung, er hieße Wasserfall Handrührgerät, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht stimmt. Das ist so ziemlich das einzige, was ich über diesen rätselhaften Wasserfall mit Sicherheit weiß. Er besteht aus zwei Teilen - was davon soll denn der eigentliche Wasserfall sein?

a) Zuerst rauscht die Ems ein Stauwehr runter. Dort fällt das Wasser wirklich nach unten. Trotzdem wäre es seltsam, so ein Wehr als Wasserfall in die Karte einzutragen - dann wären viele Flüsse geradezu übersät mit "Wasserfällen".

b) Anschließend schäumt der Fluss durch eine Barriere sehr großer Steine. Keine Ahnung, ob das auch künstlich angelegt wurde. Da gehts zwar auch steil runter, aber so richtig fällt das Wasser nicht. Dafür braust es so richtig weiß und wild herum, als käme es gerade frisch vom Rheinfall runter. Zusammen mit dem Wehr ist das schon ein toller Anblick - immerhin spektakulärer als der Leinewasserfall.


Seit der Seitenkanal in der Nähe verläuft, kann ich auf wunderbar geraden Kanalalleen vorankommen. Ordentlich aufgereihte Bäume streckten ihre Äste über mein Haupt. Sie schafften es mehr schlecht als recht, den Nieselregen von mir fernzuhalten, und bewarfen mich im Gegenzug mit Blättern.
Am anderen Ufer ziehen Ziegelhäuser vorbei. Sie gehören zu Lingen.
Lingen liegt nicht an der Linge. Das ist schon die zweite Emsstadt, die nach dem falschen Fluss benannt wurde.

Wer ganz genau hinschaut und das andere Ufer konzentriert absucht, entdeckt auch das eine oder andere Industriegebiet. Zwei Tage später habe ich in der Zeitung gelesen, dass hier geforscht wird, wie man mit Wasserstoff Stahl herstellen kann, ohne CO2 auszupusten.

Der Marktplatz von Lingen ist voll mit weißen Bürgerhäusern mit Treppenstufen-Giebeln. Wie in Hameln haben die Häuser alle irgendwelche besonderen Namen, etwa das Haus Hellmann (da wird vermutlich Mayonnaise hergestellt) oder das Kievelingshaus.
Kievelinge sind unverheiratete Bürgersöhne, die 1372 einen feindlichen Angriff auf die Stadt abgewehrt haben. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte wurde Lingen aber von so vielen verschiedenen Ländern beherrscht, dass die Kievelinge total verwirrt waren und nicht mehr wussten, wer eigentlich der Feind ist, und deshalb machen sie jetzt einfach Stadtführungen für alle Fremden. Das ist auch weniger gefährlich.

Auf dem Weihnachtsmarkt (2G) können die Besucher vor historischer Kulisse eislaufen. Zu essen gibts allerdings ausschließlich Bratwurst. Wie ich auf dieser Tour festgestellt habe, ist das kulinarische Angebot der Weihnachtsmärkte in Nordwestdeutschland bedauerlich kurz. Backbananen, Langos und andere Spezialitäten des Südens oder Ostens sind den Leuten in Lingen wurst.

Ich bin viel am Kanal gefahren, weil der Ems-Radweg sowieso nicht direkt am Fluss entlangführt. Irgendwann habe ich den Kanal aber doch verlassen, weil ich ein anderes Gewässer erkunden wollte.
Der graue, gut gefüllte Speichersee Geeste hat ungefähr die Form einer Vakuole (falls Ihnen das noch was aus dem Biounterricht sagt). Er ist umgeben von Wald, dann folgt ein ganz steiler Damm, auf dem es sich bei Schnee bestimmt prima rodeln lässt. Wer dieses grüne Gebirge bezwingt, darf zur Belohnung auf einem Asphaltweg den ganzen See umrunden und dabei rätseln, ob das Grau dahinten noch zum Speichersee oder schon zum Himmel gehört. Bei diesem Wetter sieht der See alles andere als einladend aus, wie ein leeres Loch im Land. Das andere Ufer ist kaum zu erkennen, das wiederum erinnert mich an das Meer.
Ein Geländer und eine Betonmauer schützen den See vor unerwünschten Badegästen. Nur zweimal werden sie durchbrochen: Für einen Bootshafen und für ein Strandrestaurant mit Badestelle. Der Regen prasselte inzwischen stärker nieder. Auf dem Sandstrand standen Tische, dazwischen wummerte fröhliche Musik in der Hoffnung, dass sich hier bald Gäste einfinden würden. Das nenne ich Optimismus.

Boah, die Ems ist echt breit geworden.

Zwischendurch bin ich eine Weile der Hauptstraße gefolgt. Eines der Dörfer verkaufte recht ungewöhnliche Weihnachtsbäume: Sie waren etwa 30 Zentimeter hoch, doppelt so breit und hatten Blätter statt Nadeln. Lassen sich die Leute hier etwa eine gestutzte Hecke als Tannenbaum andrehen?

Irgendwann durfte ich zurück ans Ufer und durchquerte Meppen, die zweite Stadt des Tages. In der sogenannten grünen Stadt am Wasser mündet der einzigartige Nebenfluss Hase über den Kanal in die Ems.

Dann schickte mich der Radweg auf einen Umweg durch ein Naturschutzgebiet namens Borkener Paradies. Dort sollte sich das Veersener Wehr befinden. Dieses Nadelwehr wurde 1899 zusammen mit dem Dortmund-Ems-Kanal gebaut. War der Wasserstand zu hoch, dann zog das Wasser automatisch an zwei Drähten, die das Wehr mit dem Haus des Wehrmeisters verbanden. Sofort kam der Wehrmeister raus und zog eine der vier "Nadeln" (die eigentlich fette Balken mit Haken dran waren) raus, damit mehr Wasser abfließen konnte.
Na gut, dachte ich, schließlich will ich an der Ems radeln und heute habe ich schon so viel abgekürzt. Also gucke ich mir das an. Ich hätte es aber auch lassen können - vom Wehr waren nur zwei olle Mauern auf beiden Seiten des Ems-Altarms übrig. Ein Blick auf das eigentliche Wehr bleibt mir verwehrt. Da waren selbst die kleinen Stromschnellen dahinter beeindruckender.

Der Umweg war ein Reinfall, also schnell wieder zurück zum Fluss. Am anderen Ufer ragt das sogenannte "größte Gemälde der Welt" in die Höhe. Laut Guinness-Buch der Rekorde ist das nur die größte Weltkarte der Welt, aber immerhin.
Als Leinwand dient ein alter Fabrikturm. Wie praktisch, dass der so groß ist und ich keinen Umweg dafür machen muss! Andererseits wäre das wohl ohnehin keine Sehenswürdigkeit, wenn es nicht so groß wäre.

Die Stadt Haren ist vor allem für ihren Ferienpark bekannt. Der heißt Schloss Dankern und wird tatsächlich immer noch von den adligen Eigentümern des Schlosses betrieben.
Seit 1872 steht in Haren eine Brücke. Der erste, der sie überquerte, war ausgerechnet der Fährmann, der an dem Tag in Rente ging und seine goldene Hochzeit feierte.
Im Vorbeifahren erblickte ich zwei andere Schiffe am Ufer, ein historisches Dampfschiff und ein modernes Ausflugsschiff. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass nur eins davon im Wasser lag.

Auch diesmal bekam ich den Sonnenuntergang nicht zu Gesicht. Diesmal schien es nicht, als würde der Nebel alles Licht ersticken, sondern vielmehr, als hätte der beständige Regen das Feuer der Sonne langsam, aber sicher ausgelöscht und die Welt in eine eiskalte Ödnis verwandelt. (Tut mir leid, wenn das jetzt ein ganz kleines bisschen deprimierend klingt.)
Die Dunkelheit brach herein - ausgerechnet jetzt, wo der Radweg endlich mal so richtig lange dem Flussufer folgte. In der Nähe der Schleusen standen zwar Straßenlaternen, aber die leuchteten alle aufs Wasser und waren offensichtlich nicht für mich gedacht.
Umso überraschter war ich, als ich trotzdem total viel sehen konnte - obwohl die feuchten Wolken den Himmel so sehr zugestopft hatten, dass sich Mond und Sterne ebensogut in einem anderen Universum hätten befinden können. Auch lange nach dem Sonnenuntergang spiegelte sich das verbliebene Licht auf dem breiten, nassen Fluss und dem fast ebenso nassen Radweg. Als zwei feuchtglänzende Bänder wiesen sie mir den Weg durch die Finsternis und enthüllten die Konturen der restlichen Landschaft.

Das Städtchen Lathen erstrahlte in Weihnachtsbeleuchtung, doch die Lichter waren das einzige, was hier lebte. Offenbar hat man sich hier das Weihnachtsmarktkonzept von Rheine zum Vorbild genommen und nachgeschärft - statt 1S gilt hier 0S.

Noch eigenartiger ist das Konzept des Bahnhofs. Ich will mich nicht beschweren: Eine flache Rampe und ein warmer Warteraum sind mehr, als ich in solch einem Örtchen erwartet hätte. Aber dennoch: Hä?
Die Tür wird aus Sicherheitsgründen erst nach Einfahrt des Zuges geöffnet, verkündet ein vergilbter Zettel auf der automatischen Glastür. Zu diesem Zweck sitzt im Nebenraum ein Mitarbeiter, der ein bis zwei Minuten vor der geplanten Abfahrt auf einen Knopf drückt. Im Warteraum drängen sich Menschen, die auf das erlösende Klacken warten, welches verkündet, das sich die Tür endlich für sie auftut.
Warum? Sind die Menschen hier besonders leichtsinnig? Oder vermissen sie ihren Weihnachtsmarkt so sehr, dass sie sich deshalb reihenweise vor den Zug werden?
Zwar ereignete sich in Lathen ein Bahnunfall, bei dem 23 Menschen starben - allerdings nicht an diesem Bahnhof, sondern auf Deutschlands erster Teststrecke für eine Transrapid-Magnetschwebebahn. Die wurde dann stillgelegt, weshalb ich mich mit der Westfalenbahn vorlieb nehmen muss.

Samstag, 27. November 2021

Ems: Von Westbevern nach Salzbergen

Ems-Tag III

Die fremde Stadt des Fahrrads - Der Egal-Kanal - Angebaggert von einem Huhn  - Ein ungewöhnlich großzügiges Museum, sofern man das überhaupt als Museum bezeichnen kann - Was Sandlandschaften verschönert und was sie vorübergehend verhässlicht - Die Stadt der Handwerker - Fahrradfreunde und Fahrradfeinde - Der falsche Name - 1S - Massive Überinterpretation eines Weihnachtslieds - Noch mehr Megamühlen - Nebeluntergang

Ich war ganz besonders neugierig auf die Stadt Münster, denn das gilt ja quasi als das andere Göttingen, eine junge Fahrrad- und Studentenstadt. Da ich mich dort nur eine Stunde aufgehalten habe, kann ich mir natürlich nur ein begrenztes Urteil erlauben, wo es sich besser radeln lässt. Dieses begrenzte Urteil lautet: Gleichstand.
Ich habe den Eindruck, dass die Münsteraner deutlich platzsparender als die Göttinger sind - dabei haben sie in Münster eigentlich mehr Platz. Das Fahrrad-Parkhaus am Bahnhof wurde zum Beispiel kurzerhand unter die Erde verlegt.
Göttingen hat am Rande der Innenstadt sowohl einen Fahrradschnellweg als auch einen Spazierweg auf dem Stadtwall. Die Münsteraner haben beides kombiniert. Das Ergebnis lässt sich auf jeden Fall sehen. So kann man bequem die Altstadt umrunden.
Doch wer sich in einer "Fahrradstadt" von derartigen Prestige-Radwegen entfernt, sieht ein durchwachsenes Bild: Mal wird den Radlern eine extraflache Rampe aufgebaut, damit sie ein Kabel überqueren können, ein andermal ist der Radstreifen verblasst und übermalt.

Ansonsten sieht Münster ganz anders aus: Die Münsteraner haben ihre zerbombte Altstadt nach dem Krieg wieder aufgebaut, aber dabei handelt es sich nicht um schiefe Fachwerkhäuschen, sondern große graubraun aufragende Bürgerhäuser mit Arkarden und stufenförmigen Giebeln, die recht harmonisch in ähnlich gefärbte neuzeitliche Shoppingcenter übergehen.
Mir hat Münster durchaus gefallen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, komme ich gern mal wieder für mehr.

Münster liegt nicht direkt am Emsradweg, sondern am Dortmund-Ems-Kanal-Radweg. Der führt (wie der eine oder andere vielleicht schon vermutet) am Dortmund-Ems-Kanal entlang und verbindet (kaum zu glauben, aber wahr) Dortmund und die Ems.

Nördlich von Münster trifft der Dortmund-Ems-Kanal zum ersten Mal auf die Ems. (Spoiler: Nicht zum letzten Mal.)
Jetzt müsste doch eigentlich bald mal der Kanal kommen, oder... nanu? Sollte da nicht Wasser drin sein?


Nein, sollte es nicht. Das ist die Historische Kanalüberführung (links), die tatsächlich ganz schön historisch aussieht. Sie wurde 1899 gebaut, ähnelt aber mehr einer dieser mittelalterlichen Steinbrücken.
Inzwischen hat der Kanal eine moderne Überführung bekommen, damit er über die Ems rüberkommt. Dazu musste er seine Route ein bisschen verändern. Die alte Überführung überführt bloß noch Fußgänger und Emsradler. Wenig später überqueren die Radler auch den Kanal auf einer Brücke, die nicht nur deutlich weniger schön, sondern weniger angenehm zu fahren ist - weiße Bauzäune lassen nur einen winzigen Streifen zur Überquerung übrig.

An diesem Wendepunkt wechselt die Ems die Richtung. Sie fließt ab jetzt nach Norden und durch Noedersachsen. Naja, streng genommen ist das hier noch nicht ganz Niedersachsen, aber in meinem Kopf gefühlt schon. Was wohl daran liegt, dass man hier überall mit dem Niedersachsen-Ticket hinkommt.

Im nächsten Dorf wird die Straße neu geteert. Das geht etwas langsam voran, da auf der Baustelle ausschließlich Hühner arbeiten.


Sand ist ein ständiger Begleiter der Ems. Immer macht mich die Karte auf Naturschutzgebiete oder Dünen aufmerksam und leitet mich da durch, damit ich auch mal was anderes sehe als Äcker. Die erste Sandschaft (die sogenannten Bockholter Berge) wurde gerade aufgebaggert und sah dementsprechend aktuell nicht so dolle aus. Die Baustelle soll die Bockhokter Baggerberge auf nicht näher erklärte Weise erweitern.

Auch an der Ems wurde irgendwas gebaut oder gestaut, so ganz habe ich das auch nicht verstanden. Die Baustelle bildet irgendwelche Erdhaufen-Inseln und lässt den Fluss breiter und wieder schmaler werden. Von der Uferpromenade in Greven konnte ich das genau sehen. Das ist ehrlich gesagt auch schon der interessanteste Anblick in Greven.
Die Uferpromenade brachte mich zum Schwimmbad. Hinter den Fenstern schwammen Leute, direkt darunter fand gerade ein Faßballspiel statt. In Greven lobt das Leben!

Die zweite Sandschaft (Wentruper Berge) bietet Büsche statt Bagger, das ist doch schon mal eine Verbesserung. Ein Meer stachliger Ranken hat den Boden um mich herum eingenommen, nur der Radweg ist frei.

Kurz darauf stieß ich auf einen kleinen Parkplatz mit einem Haus, dahinter scheint sich eine Art Freilichtmuseum zu erstrecken. Ein Mann kam gerade heraus, schließt es ab und fährt mit dem Auto weg. Sieht ganz so aus, als wäre dieses Museum, oder was auch immer das ist, geschlossen.
Oder?
Ich entdecke nirgendwo eine Absperrung oder ein Schild mit Öffnungszeiten oder so. Zögerlich betrete ich den Pfad. Als ich am Zaun vorbeikomme, bittet mich ein Schild, doch bitte alles pfleglich zu hinterlassen und keine Pflanzen aus dem Kräutergarten auszureißen. Sonst nichts.
Meine Karte sagt, dass ich mich auf dem Sachsenhof befinde. Die westfälischen Städte in der Gegend sind praktisch alle aus einem Hof entstanden. (Für das große Münster brauchte es mehrere Höfe.) Der Sachsenhof war die Keimzelle von Greven. In der Mitte stand ein großes Wohn- und Stallhaus für Menschen und Tiere. Rundherum liegen kleine Anlagen, wo die Sachsen alles mögliche gearbeitet haben. Ein extratiefes, halb in die Erde gebuddeltes Häuschen enthielt einen Webstuhl (weil die Feuchtigkeit gut zum Weben war, wusste ich auch noch nicht). Und das vorn im Bild ist so was wie ein erster Hochofen, um Eisen zu gewinnen.

Die Sachsen kamen so um das Jahr 500 hierher. Die Römer hatten damals schon Taxameter, während auf dem Sachsenhof noch nicht mal Pflüge benutzt wurden, das war für die schon zu viel Hightech. Wer den deutschen Rückstand in der Digitalisierung für schlimm hält, kann froh sein, dass er damals kein Sachse war.
Um den Hof zu bauen, mussten die Sachsen erstmal das Land erstmal erobern. Das war nicht so schwierig, denn hier lebte vorher quasi gar keiner. Wenn doch nur alle Eroberungen der Geschichte so friedlich verlaufen wären.
Dieser tiefe Frieden hat offenbar die Jahrtausende überdauert und liegt noch heute wie ein sanfter Schutzschirm über der Anlage. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso die nachgebauten Anlagen nicht von Vandalen (nein, nicht denen von der Völkerwanderung) verwüstet wurden. Man kann einfach so rein und sich anschauen, was da so alles nachgebaut, angepflanzt und an die Infotafeln geschrieben wurde. Auch ein Rastplatz für Radler gehört dazu. Solch eine aufwändiger Nachbau kostet sonst immer was.

Die Ems sehe ich meistens nur, wenn ich sie überquere. Das mache ich ziemlich oft. Am schält sich dann meistens schon der Kirchturm des nächsten Dorfes aus dem Nebel. Einmal geriet ich in eine Geschwindigkeitsmessanlage, die mir 15 km/h bescheinigte.

Die nächste Stadt heißt Emsdetten. Weil der Ackerboden nicht viel hergibt, lebten da schon immer viele Handwerker. Die stellten zum Beispiel Wannen, mit denen Getreide gesiebt wurde, als auch Polypropylen, mit dem der Reichstag verhüllt wurde, her. (Zugegeben, dazwischen lagen ein paar Generationen.)
Der Radweg hat mir allerdings nichts von der Stadt gezeigt, sondern nur das Naturschutzgebiet der Emsauen. Von der Ems ist da kaum was zu sehen. Sie fließt in einigen Metern Abstand und ist total zugewachsen.
Früher gab es hier keine Brücken, sondern sieben Fähren. Manche gehörten der Gemeinde, andere der Kirche. 1953 wurde die vorletzte Fähre stillgelegt, weil sie total abgewrackt war und keiner mehr damit fahren wollte. Den Bewohnern des Emslands scheinen ihre alten Fähren sehr wichtig zu sein: An der ganzen Ems gibts ungewöhnlich viele Hinweistafeln, die erklären, was für Fähren hier früher fuhren.

Die nächste Brücke sieht besonders eindrucksvoll aus. Da steige ich doch gern ab und schiebe ein bisschen, um sie zu bewundern.

Die Brücke entlässt mich in die dritte Sandschaft (Elter Dünen), die mit seltsamen Industrie-Ruinen und einer erstaunlich großen Heidefläche am interessantesten ist.

Hier befindet sich die letzte der sieben Fähren, die heute noch fährt - zumindest in den Sommermonaten, momentan ist sie im Winterschlaf. Schade. Wobei, ich wäre eh nicht damit gefahren, denn am anderen Ufer ist weder der Emsradweg noch sonst irgendwas. Aber immerhin ist das die einzige handbetriebene Fähre auf der Ems, wär schon interessant zu sehen, wie die fährt.

Erst Heide, und jetzt auch noch eine militärische Sperrzone? Bin ich etwa wieder bei der Emsquelle gelandet?
Ganz wichtig: In dieser Sperrzone darf auf keinen Fall gepinkelt werden. Ein Zusatzschild erweitert das Pinkelverbot auch für Frauen. Man könnte dabei Munition treffen.

In den westfälischen Städten sind die Fahrradstreifen komplett zugeparkt. So extrem habe ich das selten gesehen. Die Nähe zur Fahrradstadt Münster hat offenbar keine große Ausstrahlungswirkung oder so.

Die größte und wohl auch schönste Stadt auf diesem Abschnitt heißt Rheine. Die Altstadt besteht vorwiegend aus graubraunen Sandsteinhäusern, quasi ein kleineres Münster.
Ich weiß auch nicht, wer auf die glorreiche Idee gekommen ist, eine Stadt an der Ems Rheine zu nennen, aber welch ein Glück, dass dieser Typ nicht noch mehr Städte benannt hat. Sonst hieße Fulda wahrscheinlich Donauwörth.
Andererseits: Emse gibt auch nicht wirklich einen tollen Namen ab. Das klingt eher nach irgendeiner abwertenden altmodischen Bezeichnung für Frauen.

Auch Rheine hat einen Uferweg, diesmal ist der aber deutlich urbaner. Ich bin an einem Shoppingcenter vorbei und unter der Fußgängerzone durchgeradelt. Dort fand bereits der Weihnachtsmarkt statt. Mit den Weihnachtsmärkten ist das in diesem Jahr bekanntlich etwas schwierig. In Rheine hat man sich ein ganz besonderes Corona-Konzept einfallen lassen: Hier gilt nicht etwa 3G oder 2G, sondern 1S. Heißt: Der Weihnachtsmarkt besteht aus einem einzigen Stand. Dieser steht auf der Brücke über der Ems und verkauft in Baileys-Likör gebrannte Mandeln, die im Umkreis von 18,7 Kilometern extrem verführerisch duften. Was auch erklärt, warum trotzdem fast so viele Leute herumliefen wie auf einem normalen Weihnachtsmarkt.
Die Ludgerusbrücke war lange Zeit die einzige Brücke der Stadt und zugleich wichtigster Schutz (bei einem Angriff leicht zu verteidigen) und Einnahmequelle (Zoll). Erst 1828, als beides nicht mehr so richtig funktionierte, traute sich zum ersten Mal jemand, ein Haus am anderen Ufer zu bauen.

Auf der Brücke spielte ein Mann Harfe. Wie schafft er das, ohne dass ihm die Finger abfrieren? Seine melancholische Melodie berührte irgendwas in mir. Auf einem gewöhnlichen Weihnachtsmarkt wäre diese Musik eher unpassend. Aber das ist kein gewöhnlicher Weihnachtsmarkt, kein gewöhnliches Weihnachten und kein gewöhnlicher Winter. Schon wieder, obwohl sich viele etwas anderes erhofft hatten. Und dieselbe europäische Novemberkälte, die mich trotz fünf Kleidungsschichten frösteln lässt, tötet in diesem Moment an unseren Grenzen Menschen. All das scheint in dieser Melodie mitzuklingen.
Wobei ich nicht weiß, ob der Harfenspieler das wirklich alles mitklingen lassen wollte. Wahrscheinlich nicht.

Hinter Rheine strömt die Ems durch eine ganz besonders große Mühle. Von den Mühlrädern ist nicht wirklich was zu sehen, aber an der Stelle, wo sich der Mühlenkanal wieder mit dem Hauptfluss vereint, entstehen ganz schön heftige Stromschnellen.

EMSSPORT verkünden die Buchstaben auf diesem komischen Käfig. Ich habe ja schon allerhand Trimm-Dich-Pfade und Freiluft-Fitnessgeräte in Parks gesehen - aber was bitte soll man in dem Kasten für Sport machen? Und warum steht davor ein Trampolin, das nicht elastisch ist?
Neugierig fahre ich heran - und stelle fest, dass ich mal wieder alles falsch verstanden habe. Es handelt sich um die Utensilien einer vergessenen Sportart, die sich nie durchgesetzt hat. Was daran liegt, dass es sie nie gab. Das ist ein Kunstwerk, das gegen krampfhafte Fitness und Leistungssport in der Freizeit gerichtet ist. Eine Botschaft, die ich voll und ganz unterstütze. Und jetzt schnell weiter, ich will heute unbedingt noch die 70 Kilometer nach Salzbergen schaffen!

Nördlich der Stadt bin ich nich an einem Kloster vorbeigefahren. Die Mönche hatten ihre eigene Saline und nannten sie Gottesgabe. Kurz darauf 
Die Felder und Wälder haben mich immer wieder an den zweiten sommerlichen Ems-Tag erinnert. Ein Asphaltweg schlängelt sich geschmeidig durch diese Landschaft.
Die Bäume befinden sich inzwischen fest in der Hand des Novembers - die meisten sind grau, ein paar andere noch orange.


Aber, was zum Geier, auf manchen Feldern scheint immer noch Sommer zu herrschen! Ich habe immer noch strahlend gelbe Rapsfelder, blau blühende Kornblumen und grasgrünen Rasen gesehen. Zwar deutlich weniger als während der letzten Tour, aber trotzdem nicht wenig.
Auf dem letzten Aussichtsturm des Tages hatte ich einen eigenartigen Blick: Auf dem einen Ufer herrschte Sommer, auf dem anderen Herbst.

Ein Landwirt erntete noch sein Getreide ab und schoss es in einem goldenen Strahl aus dem Mähdrescherrohr in einen Container.
Zielstrebig radelte ich auf Salzbergen zu und rechnete schon damit, den Sonnenuntergang am Horizont zu sehen. Doch es gab keinen Sonnenuntergang. Überhaupt nicht. Dafür war der Himmel einfach zu feucht. Stattdessen übernahm der Nebel die Aufgabe, den langsamen Übergang zur Dunkelheit zu überbrücken - er senkte sich über das Land und schien alles Licht aus der Landschaft herauszufiltern.
Ausgenommen natürlich künstliches Licht. Wobei ich diesbezüglich nicht viel zu bieten habe. Mist. Ich musste feststellen, dass mein Vorderlicht schon wieder kaputt ist.

Macht nichts, ich bin ja eh gleich in Salzbergen. Das Zifferblatt der Kirchturmuhr leuchtete mir entgegen und verriet mir, dass der nächste Zug sogar früher kommt als der Sonnenuntergang.
Begeistert schob ich mein Rad eine superangenehme Fahrradrampe hinunter und nahm mir schon vor, ein paar lobende Worte über diesen kleinen Bahnhof zu verlieren - da sah ich, dass die andere Treppe zum Bahnsteig wieder nur mit diesen nutzlosen 0,2 Millimeter breiten Rampen am Rande der Treppe ausgestattet war. Dann also doch keine lobenden Worte. Stattdessen tadelnde. Die ich hiermit geschrieben habe.